Interview Babrzai M.

Mein erster Interviewpartner ist Babrzai Mohamadzaman, der derzeit in der Stadtwohngruppe Waldkirchen lebt. Er wird Anfang des nächsten Jahres 21 Jahre. Er hat konkrete Wünsche und Ziele für seine Zukunft. Babrzai kann aus seiner Erfahrung, die er bei uns gemacht hat, erzählen. Mit seinem persönlichen Erfolg und seiner Geschichte kann er vielleicht Jugendlichen, die ganz am Anfang stehen, Mut machen zu uns zu kommen oder diejenigen motivieren, die bei uns in den Jugendhilfeeinrichtungen Freedom sind, ihren Weg konsequent weiterzugehen.

Gleich zu Anfang möchte ich mich bei Babrzai für die Offenheit in unserem Gespräch bedanken. Die vorbereiteten Fragen waren eher kurzgehalten und ließen die Ausführlichkeit der Beantwortung offen. Babrzai hat in seinen Antworten offen alle Informationen gegeben, die die Leser für das Verständnis und die Chronologie seiner Geschichte benötigen. Danke 😊

Warum bist du in die Jugendhilfe gekommen?

Ich kam 2015 mit der großen Flüchtlingswelle im Alter von 10 Jahren von Afghanistan allein nach Deutschland und bin gleich nach der Grenze in der Erstunterbringung in Röhrnbach gelandet; wie aus meinen Unterlagen hervorgeht gab es dann eine „Fehlverlegung“ nach Nürnberg in ein Heim. Warum nicht das näherliegende Passau o.ä., ist nicht mehr nachvollziehbar. Ich war dann 7 Jahre in Nürnberg, bin dort zur Schule gegangen und habe auch den Schulabschluss dort gemacht. Ein Zusammenspiel aus falschem Umfeld, falschem Freundeskreis und fehlenden Strukturen führte meinen Weg dann ins Drogenmilieu; Ich habe damals schon manchmal überlegt auszusteigen, habe es aber dann doch nicht geschafft. Irgendwann bin ich von der Polizei aufgegriffen worden und habe, aufgrund meines Alters, die Auflage erhalten in eine Jugendhilfeeinrichtung zu gehen. Ich kam also nicht freiwillig her.

Wie und mit wem bist du hergekommen (Eltern, Jugendamt, Betreuer, …)?

Es wurde ein Besuchstermin in Schachtlau vereinbart gemeinsam mit dem Bezugsbetreuer vom Heim in Nürnberg. 3 Wochen später wurde ich dann schon aufgenommen: ohne Ziele, ohne Gefühle, unfähig Gespräche zu führen oder Beziehungen aufzubauen.

Wie war dein Start in den Jugendhilfeeinrichtungen Freedom?

Der Anfang war echt hart. Ich war bei jedem Blödsinn dabei und Magnet für jegliche Schwierigkeiten.

Das ging dann ungefähr ein halbes Jahr so. Erst dann bin ich „zu mir gekommen“.

Meine Bezugsbetreuerin Julia hat mir unheimlich geholfen. Sie hat meine schlechten Seiten gesehen, hat sich Zeit genommen und hat dann auch meine guten Seiten kennengelernt.

Sie hat sich zum Beispiel Zeit genommen und mit mir sehr lange mit meiner Mutter in Afghanistan telefoniert. Das ist nicht selbstverständlich. Ehrlich, was willst du mit 10 Minuten? Ich kann meiner Mutter in 10 Minuten nicht erklären, was mit mir passiert ist, wie tief ich abgerutscht bin, warum das so ist und wie der Weg für mich weitergehen soll.

Ich habe mit Julia bei diesen Telefonaten das erste Mal weinen können und wieder gelernt meine Gefühle zuzulassen. Ich habe das Vertrauen gewonnen, dass ich mich jemandem anvertrauen kann.

Bei einem Telefonat mit meiner Mutter habe ich dann auch erfahren, dass mein Vater gestorben ist. Schon vor längerem. Aber meine Mutter wollte mich schonen und hat es mir darum erst viel später erzählt. Dies war für mich der erste Anstoß umzudenken. Ich wollte für meine Familie da sein und meine Mutter und meine 7 Geschwister, so gut es eben geht aus dieser Entfernung, unterstützen.

Beschreibe uns bitte deine Zeit in unserer Einrichtung?

Anfangs gewöhnungsbedürftig, rückblickend aber war es eine total schöne Zeit. Vielleicht würde ich sogar freiwillig für 1 Monat zurückgehen und einfach mit den Jugendlichen AT machen (er lacht). Man hat Struktur bekommen. Wir haben einen Obstgarten angelegt, der Reparaturdienst, das Malern, … war cool. Man ist beschäftigt und das ist gut so. Wir haben verstecken gespielt, Bücher gelesen, Monopoly gespielt und vieles mehr. Man hat gelernt, Zeit ohne Handy zu verbringen und man hat sich selbst kennengelernt. Meine „Freunde“ aus Nürnberg hätten das nicht verstanden oder gemacht. (er lacht wieder)

Der Bezug zum Bezugsbetreuer ist sehr intensiv; zum Rest der Teamer passt`s auch, aber es besteht einfach viel weniger Verbindung.

Was würdest du als allererstes ändern in der JUHI?

Ich habe schon etwas verändert. Ich war 1 Jahr Gremium und wir haben zum Beispiel die Rauchzeiten verändert (damals habe ich noch geraucht). Ich würde mehr Telefonzeit am Anfang anbieten zum Beispiel für die Familie. In 10 min kann man, wie in meinem Fall, nicht erzählen was passiert ist und warum man so abgestürzt ist, wo man warum gelandet ist und was werden soll.

Wie siehst du deinen Aufenthalt in der Einrichtung? Eher als „Bestrafung“ da du ja nicht freiwillig herkamst oder als Chance?

Eine zweite Chance.

Was gab es für Vorfälle/Krisen? Warst du betroffen? Welche Gefühle haben diese Vorfälle bei dir ausgelöst?

Auch ich war abgängig für ein paar Tage. 2 Tage im tiefsten Winter mit anderen Jugendlichen machten wir uns auf den Weg, auf der Suche nach Drogen. Wir waren undiszipliniert und uneinsichtig, aber wir sind „zurückgekommen“: Es gab eine Gruppe mit Eingeständnissen der Kardinalregelbrüchen, alles wurde aufgemacht. 4 Jugendliche sind rausgeflogen. Man hat auch mich gefragt „Willst du bleiben?“ – und ja, ich wollte bleiben. Die Nachricht vom Tod meines Vaters und diese Situation – ich wollte raus aus diesem Leben, wollte anders sein, keine Lügen mehr, nicht mehr abgefuckt sein, authentisch werden und ich selber sein.

Was würdest du einem Jugendlichen mitgeben für seine Zeit in der Jugendhilfe? Welche Infos hätten dir das „Ankommen“ oder deine Zeit hier erleichtert?

Ich hatte schon Coachkinder (immer 1-2 Wochen). Mein Rat ist, sie sollen sich drauf einlassen. Man verliert sonst viel wertvolle Zeit. Man muss herausfinden, wo der rote Faden ist und man muss auch selber was tun, um voranzukommen.

Was hat dir am meisten gefehlt?

Die Familie und Gott.

Ich wurde als Muslime geboren. Ich verlor aber nach meiner Flucht meinen Glauben und bin jetzt Christ. Ich habe mich taufen lassen und gestalte mein neues Leben mit meiner Religion.

Was hast du für Ziele und Pläne für die Zukunft?

Ich möchte Ende dieses Jahr ausziehen, weil ich im Februar 21 Jahre alt werde.

Ich bin im 2. Lehrjahr KFZ-Mechatroniker und habe noch 2 Jahre bis zum Ende meiner Ausbildung. Ich spare und schicke Geld zu meiner Familie. Ich möchte mir auch eine eigene Wohnung suchen und im Anschluss an meine Ausbildung dann auch noch meinen Meister machen.

Danach möchte ich an den Bodensee. Ich will in der Schweiz arbeiten als Grenzgänger. Dort gibt’s Wassersport, eine Rennstrecke (er lacht) und ich möchte gerne am Wasser leben. Ich komm aus einer kleinen Landwirtschaft, wo wir Selbstversorger waren und ich habe sehr gerne am Land gelebt. Ich würde auch gerne während der Ausbildung wieder am Land wohnen, da es dort ja auch günstigere Wohngelegenheiten gibt. Doch durch den Mangel an verkehrstechnischer Verbindung wird dies vorerst wohl nicht möglich sein.

Ich habe 7 jüngere Geschwister. Ich würde mir natürlich wünschen, dass meine Familie auch nach Deutschland kommen könnte. Mein Bruder hat ein Loch im Herzen und es wäre toll, wenn er in Deutschland operiert werden könnte. In Afghanistan hat er dazu keine Möglichkeit. Ich würde mir wünschen, dass insbesondere meine Schwestern nach Deutschland kommen könnten und ihr Leben selbst bestimmen zu dürfen. Welche Ausbildung sie machen wollen, welchen Mann sie heiraten und wie sie leben und arbeiten möchten.

Ich gehe alle 14 Tage in die Kirche und faste bis Ostern.  Klassisch mit dem Verzicht z.B. auf Zucker und „modern“ mit dem Verzicht bzw. Einschränkung des social Media Konsums. Ich bin interessiert am Austausch der christlichen Religionsgemeinschaft und lerne damit, mich Fremden gegenüber zu öffnen und kann über meine neue Religion reden. Am Anfang war ich in der Kirche total überrascht, fast „überfordert“. Viele haben mich angelächelt. Das kannte ich nicht. Eine ganz tolle Gemeinschaft.

Ich möchte mit diesem Interview auch zeigen, insbesondere wegen der Vorfälle in jüngster Vergangenheit, dass nicht alle Afghanen so sind, wie die Menschen, die im Fokus der Medien stehen.

Warum hast du dich für dieses Interview gemeldet?

Um mich selbst zu reflektieren, mich mit meinem neuen ich zu beschäftigen und anderen mitzugeben, dass man, wenn man seinen roten Faden gefunden hat, sehr viel erreichen kann, nachdem man erkannt hat, wer man eigentlich ist.